Vor Jahren erteilte ein indischer
Yogameister in einem Schlößchen Yogaunterricht. Er
beeindruckte durch seine Erscheinung. Das Frühstück für
ihn bestand aus Kräutern, die er am nahe gelegenen Bach und an den
Rändern der Obstplantagen sammelte. Die Mahlzeiten waren
vegetarisch. Ihnen ging ein gewisser Ritus voraus. Er nahm etwas von
den Speisen, tat sie auf einen Teller und stellte ihn außerhalb
des Raumes auf ein Fensterbord. Sodann teilte er den Anwesenden die
Speisen aus. Es schien, als ob er, indem er den Vögeln Nahrung
bereitstellte, am gesamten Leben partizipieren wollte. Doch eher war
es eine Geste der religiösen Verehrung. Das verehrende Darbieten ist in der Tat in den alten Kulturen praktiziert
worden. Ägyptische Denkmäler zeigen, daß Blumen und
Blumensträuße im religiösen Leben eine Rolle gespielt
haben. Sie wurden als Opfer den Gottheiten dargebracht und galten auch
als Lebensträuße. Solche Gebinde symbolisierten die
Fülle des Lebens und waren ein Zeichen der Herzensfreude und
Gesundheit. Vorzugsweise widmete man den Gottheiten
Lotosblüten und Papyrusdolden. Aber auch Lilien kann
man auf den Darstellungen alter ägyptischer Denkmäler
identifizieren. Der Priester in seiner Funktion als
religiös Beauftragter indessen legte nicht nur am Bild der
Gottheit im Tempel solche Gebinde nieder, sondern er
überreichte sie auch dem König oder
einer Privatperson. Ebenso |
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vermochten Könige und Privatpersonen Blumenopfer am Altar niederzulegen.
Viele Tempelreliefs bringen den opfernden König ins Blickfeld.
So opferte der königliche Herrscher der Göttin Hathor eine
Lotosblüte. Was ist nun die religiöse Bedeutung
der Blumengaben? Sie sollten Kräfte
aktivieren, wenn sie auf dem Opfertisch lagen oder in dessen Schrein
standen. Besonders wichtig waren die Sträuße, die aus den
Tempeln in die Häuser getragen wurden. Sie galten dann z.B. als
„Lebensstrauß des Amun“. Solche heiligen Sträuße sind
Symbol göttlicher Huld, welche damit sagt: „Der Gott liebt dich
und lobt dich.“ Da der Lotos vorrangig als Opferblume fungierte, wird
man ihm einen herausgehobenen Symbolwert zusprechen können. Dieser
leitet sich von der Vorstellung ab, daß die sich im morgentlichen
Licht öffnende Blüte mit der Sonne als dem Sonnengott in
Verbindung stehe. Jedes Erblühen des Lotos war ein Sinnbild der
täglichen Wiedergeburt der Sonne.
In Israel finden sich weitere Formen des Opferns. Die Schaubrote wurden
im Tempel zu Jerusalem gemäß der Vorstellung ausgelegt,
daß der Gottheit Nahrung zukommen sollte. Auch das Cerealien-Opfer in Indien ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Erwähnt
werden muß auch das Trankopfer. Die Opfermaterie besteht
vornehmlich aus Korn, Most und Öl. Aus diesen Nahrungsmitteln
wurde eine Hebe als Gabe für Gott aus dem ganzen Vorrat
herausgehoben. Bei den Webegarben und den Webebroten handelte es sich
um solche Gaben, die der Priester in rituellem Vorwärts- und
Rückwärtsschreiten an den Altar brachte. Welcher Sinn wohnt
aber solchen Handlungen bei? Diese Opfervorgänge haben durch die
im römischen Kulturkreis gefundene Formel „do ut des“ – ich gebe,
damit du gibst, die auch in anderen Kulturkreisen eine archetypische
Bestimmtheit ist, ihre Sinngebung erhalten. Die Opfergaben sind
gleichsam Geschenke, die den göttlichen Empfänger geneigt
machen sollen: „Hier ist die Butter – wo sind deine Gaben?“
Eine derartige Drastik scheint aber das Wesentliche des Opferns zu
verfehlen. Besonders beim Erstlinsgopfer, welches uns nun thematisch
interessieren soll und dem eine weitere Dimension beigefügt ist,
wird eine gewisse Scheu des Opfernden sichtbar. Er möchte die
Ernte und Früchte des Feldes nicht antasten, bevor nicht einem
Höheren, dessen Besitzrecht anerkannt ist, ein symbolischer Teil
abgetreten wurde. Dabei spielt die Tatsache, daß das
Dargebrachte oft von den Darbringern und den Priestern verzehrt wird,
keine entscheidende Rolle. Wenn auch Speise- und Trankopfer den weitaus
größten Teil der Opfermaterie ausmachen, so kommt nun durch
das Erstlingsopfer eine fatale neue Qualität in das Opferritual,
denn auch die Erstgeburten der Tiere fielen unter die
Opferverpflichtung. Im folgenden seien einige Zitate aus dem Alten
Testament angeführt. Zunächst zum vegetabilischen
Erstlingsopfer. In 3. Mo 23,11-12 lesen wir: „Wenn ihr in das Land
kommt, das ich euch verleihen werde, und die Ernte in ihm abhaltet, so
sollt ihr die Erstlingsgabe von eurer Ernte zum Priester bringen. Und
er soll die Garbe vor Jahve weben, dass sie euch wohlgefällig
mache; und am Tage nach dem Sabbat soll sie der Priester weben.“ Die
Opfervorschrift für Erstgeburten von Rindern und Kleinvieh
finden wir in 5Mo 15,19: „Alle Erstgeburt, die unter deinen Rindern
und Schafen geboren wird, was ein Männlein ist, sollst du dem
Herrn, deinem Gott, heiligen. Du sollst nicht ackern mit dem Erstling
der Ochsen und nicht scheren die Erstlinge deiner Schafe.“ Man wird
nicht fehlgehen, wenn man dies eine Zuspitzung nennt, die eine weitere
Gewichtung in 2. Mo 22,28-29 erhält: „Mit deinem Überfluß und deiner Träne (mit „Träne“ kann auch der Saft
von Früchten gemeint sein) sollst du nicht zögern. Den
Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben. Ebenso sollst du
es halten mit dem Rind und dem Schaf: Sieben Tage soll es bei seiner
Mutter bleiben und am achten Tage sollst du es darbringen.“
Widerstand, Widerwille oder Unwillen gegen ein derartiges Geschehen
äußern sich heute deutlicher als in früheren
Generationen. Besonders Menschen, die mit dem buddhistischen Gedanken
der Ahimsa (Gewaltlosigkeit) vertraut sind und ein sensibilisiertes Vermögen
zur Empathie haben, können bei solchen rituellen Vorgängen
in helle Aufregung geraten. Die Frage, warum es zu einer derartigen
Opferpraxis gekommen ist, kann man eigentlich nur auf hypothetischer
Weise beantworten. Es scheint, daß mit dem vegetabilischen
Erstlingsopfer eine logische Mechanik auf den Weg gebracht worden ist,
die dann ebenfalls Erstgeburten von Mensch und Tier ins Verhängnis
gezogen hat. Darüber hinaus könnte das psychologische Gesetz
der Intensivierung wirksam geworden sein. Ein solcherart beschaffener
Steigerungswille tritt auch in der modernen Gesellschaft, jedoch auf
anderen Feldern, immer wieder in Erscheinung. Man könnte eine
Opferlogik skizzieren, die vom Blumenopfer ausging und beim Menschenopfer mündete. Ein weiterer Hinweis soll philosophischer Art
sein. Für Richard Rorty strukturiert sich Philosophie um das
Schöne und Erhabene. Der Denkstil des Schönen strebt in
menschenfreundlicher Weise die Umordnung der Verhältnisse an.
Dagegen ist die Neigung zum Erhabenen revolutionär; sie will das
ganz Andere.
Nun müssen wir zu weiteren Beschreibungen von Opfergeschehnissen
zurückkehren. Dabei verlassen wir Israel und fragen danach, ob es
in Europa ebenfalls Opferrituale gegeben hat. Wir müssen das
bejahen. Man hat Kultanlagen in Dänemark, den Niederlanden, in
Deutschland gefunden. Die prähistorischen Menschen, die vor
10000 bis 14000 Jahren im Bereich dieser Kultstätten lebten, waren
ebenso den Erfüllungspflichten gegenüber der Gottheit
unterworfen und bemühten sich, ihr Wohlwollen zu erlangen. Dabei
bleibt in diesem Rahmen die Frage unbeantwortet, wie sich ein Kultus
konstituiert hat. Erkenntnisse des Opfervorgangs selbst gewann man
aus Moorfunden und den Quellopfern. Aus der Dichtung ist uns auch die
Opferung von Iphigenie bekannt, die aber nach Taurus entrückt
und zur Priesterin gemacht worden sei. In Mexiko führten die
Azteken grausame Opferungen im Rahmen des Regenzaubers durch.
Wir wenden uns wieder Israel zu. Das zweite Buch der Könige
erzählt, daß der König von Moab in höchster Not
seinen erstgeborenen Sohn geopfert hat. Desgleichen verhielt sich
Jephta, im Buch Richter mitgeteilt, als er seine Tochter dem Gott
Jahve darbrachte. Von einem besonderen und weithin bekannten
Opferversuch berichtet die Erzählung von der Opferung Isaaks in
1Mo 22, bei der das geplante Menschenopfer durch ein Tieropfer ersetzt
wurde: „Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder
hinter sich
in der Hecke mit seinen Hörnern hangen und ging hin und nahm den
Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.“
Was ist
nun die Ursache der Gewalt im Umkreis der Opferungsriten? Wir greifen
zu den Erklärungsmustern von René Girard. Danach ist die
Ursache des Opferns diejenige Gewalt, die sich aus
innergesellschaftlichen Spannungen, Irritationen und Frustrationen
entwickelt. Ein derartig beschaffenes Gewaltpotential bedroht
gemeinschaftliches Leben. Kam in alten Kulturen ein solcher Konflikt
zum Ausbruch, dann bestand die Gefahr, daß mittels der Blutrache
diese Zerstörungsdynamik sich immer wieder ausagieren mußte,
d.h. die Rückkehr zum inneren Frieden nicht gelingen wollte. Wenn
ein Rachegeschehen innerhalb einer Gemeinschaft auftaucht, neigt es
dazu, sich auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen. In
heutiger Zeit wendet das Gerichtswesen die von der Rache ausgehende
Bedrohung ab. Mit der Vergeltungshandlung der Rechtsinstanz ist die
vorangegangene Gewaltanwendung neutralisiert. In alten Gesellschaften
hatte indessen der Priester die Aufgabe, in vorgeschriebenen Ritualen
innergesellschaftliche Gewalt auf Opfer abzuleiten, auf ein
ausgesuchtes Tier oder einen Menschen, welcher oft durch Los
bestimmt wurde. Ein solcher Opferakt schafft eine gewalttätige,
versöhnende Einmütigkeit.
Auf Gewalt antwortet also religiöse Gewalt. Man könnte
folgern, daß man der religiösen Gewalt den Boden
entzöge, wenn man die Menschheit von innergesellschaftlichen
Konflikten befreite. Schon einige Propheten des Alten Testamentes
nahmen Anstoß an der kultischen Gewalt und wandten sich oft
heftig gegen ihre Anwendung. Sie empfahlen Gehorsam und Aufmerken (Sam
15,22). Die Psalmen setzen verinnerlichte religiöse Haltungen
über den Opferkultus, den auch der Prophet Amos zurückweist. Ebenso tun es die Sprüche Salomos. Jesaja zürnt gar
den Opfernden. Es wird also im Alten Testament fortschreitend deutlich,
daß das eigentliche Wesen der Religion darin besteht, den Weg der
Vergeistigung und Spiritualität zu gehen. In Hos 6,6 heißt
es: „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, und an der
Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.“ Mit dem Erscheinen des
Christentums, das sich auf das einmalige Opfer Christi beruft, verliert
sich in unserem Kulturkreis der Kultus des Opferns. Der
Johannesbrief ordnet die früheren Opferriten der Finsternis zu.
Der geopferte Christus hat in einem einmaligen Tun die Welt
versöhnt.
Aus diesem Glauben erwächst zwar ein
vergebender Zuspruch, doch im innergesellschaftlichen Konfliktfall, den
die Kirche nur selten vermocht hat zu vermeiden, kann die ganze Gewaltbereitschaft wieder hervorbrechen. Sodann färbt die mit der
Kreuzigung verbundene Gewalt das christliche Bewußtsein ein, was
der Sensibilisierung des Gewissens nicht dienlich |
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ist. Welchen Weg kann nunmehr die Moderne heute
gehen? Gewiß gibt es Vorreiterfunktionen, wie die Vorstellungen
von Ahimsa
und Metta, die Bergpredigt („Selig sind die Friedfertigen“) oder der
Vegetarismus, welche Menschen der Gewaltanwendung gegenüber sensibel machen können, so daß sie nach der Ursache des Leids
fragen. |
Es ist unverzichtbar im Sinne der Wertevermittlung, ein ethisches
Bewußtsein zu erarbeiten. Im Bemühen um
innergesellschaftlichen Frieden muß erkannt werden, daß
Gerechtigkeit und Mitleid aufeinander bezogen sind. Vernachlässigung
solcher Werte kann den Sündenbockmechanismus in Bewegung setzen.
Die Ursachen der Gewalt sind oft soziale Lasten. Die Lösung einer
solchen Problematik hat eine ausgeglichene Gesellschaft zur Folge. Die
Neigung zum Primat des Materiellen verdrängt Spiritualität,
beachtet Friedfertigkeit nicht und wendet sich ab von der Kultur des
Nichtverletzens. Eugen Drewermann schreibt in der Erinnerung an seine
buddhistische Erfahrung: „Da bildete (im Buddhismus, G.T.) die
Friedfertigkeit des menschlichen Herzens und das Verständnis der
vielfältigen Gründe für Irrtum, Fehlidentifikation,
Täuschung und Gewalt den Teil einer ... Weisheitslehre, die alle
metaphysischen Theorien über das Göttliche verabscheute,
dafür aber die Wahrhaftigkeit ... des Lebens als den rechten Weg
der Wahrheitssuche erkärte“ (Dalai Lama/Eugen Drewermann, Der Weg
des Herzens). Und an anderer Stelle: „Pazifismus, Vegetarismus und eine
Relativierung der Rechte des Homo sapiens zu Gunsten der
Überlebensinteressen der Tiere an unserer Seite waren nie ernsthafte Themen kirchlicher Verkündigung“ (E. Drewermann,
Publik-Forum, Nr. 2, Januar 06, S. 50). Lassen wir also das Tier Zweck
sein und nicht Mittel, geben wir dem Tier die Chance zum eigenen Leben
und halten wir das Leid fern, das ihm der Mensch in egoistischer
Zentriertheit zufügt.